Terror in Oslo: Im Zweifel war’s ein Islamist

23.07.2011 – Nachdem das Zentrum von Norwegens Hauptstadt Oslo am gestrigen Nachmittag von einer heftigen Explosion erschüttert wird, schalten viele TV-Sender, Radiostationen, Zeitschriften und Zeitungen auf Live-Berichterstattung.

Man erlebt in schneller Abfolge die verwackelten Bilder privater Videoaufnahmen, die atemlosen Berichte von Augen- und Ohrenzeugen, die improvisierten Statements der schnell herbei gerufenen Terrorismus-Experten und die hastig formulierten Warnungen von Polizei und Politik.

Das ganze Szenario erinnert an 9/11: Die schreienden, rennenden Menschen, die Trümmer, der Staub, das Blut und nicht zuletzt die Gewissheit, es hier mit einem islamistischen Anschlag zu tun zu haben. Bis sich am späten Abend herausstellt, dass ein christlich-konservativer Nationalist hinter den Anschlägen steckt.

„Islamistischer Anschlag“ in Oslo

Der TV-Sender Phoenix überträgt bis zum frühen Abend ein Oslo-Special mit wechselnden Moderatoren und Experten. Während der ersten Stunden wird vom Studio aus mehrmals mit Rolf Tophoven, dem Leiter des Instituts für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik, telefoniert.

Der selbst ernannte Terror-Experte, Gastautor bei Springer und Publizist mit Themen-Schwerpunkt militanter Islamismus erkennt an den ersten Bildern aus Norwegen unverkennbar die Handschrift islamistischer Terroristen.

Für ihn spricht alleine die Stärke der Explosion und das Ausmaß der Zerstörung dafür, dass es sich um das von langer Hand geplante Werk religiöser Fanatiker handeln muss. Weitere Informationen, Hintergründe oder Anhaltspunkte benötigt der Experte nicht.

Die Gründe für einen islamistischen Anschlag liefert Tophoven direkt mit: Denkbar sei eine Vergeltung für die Tötung Osama Bin Ladens oder für die Beteiligung Norwegens am Afghanistan-Einsatz. Selbst der libysche Machthaber Gaddafi wird von ihm als möglicher Drahtzieher der Anschläge ins Feld geführt.

„Experten“ schließen sich an

Ausgehend von Tophovens „Analyse“ breitet sich das Gerücht vom islamistischen Anschlag in Norwegen über die öffentlich-rechtlichen Sender bis hin zu den Privaten und der Presse aus. Fast alle Medien sprechen im Laufe des Nachmittags und Abends jetzt davon, dass in Oslo Islamisten am Werk gewesen sind.

Dies ändert sich auch dann nicht, als bekannt wird, dass ein Zusammenhang zwischen dem Mann, der in einem Feriencamp der sozialdemokratischen Jugend auf Menschen geschossen hat und dem Bombenanschlag auf das norwegische Regierungsviertel, besteht.

Noch am Abend erklärt der Terrorexperte Claude Moniquet aus Brüssel: „Es ist aber höchstwahrscheinlich eine islamistische Gruppe mit Verbindungen zur El Kaida“ und stellt einen Zusammenhang zwischen den dänischen Mohammed-Karikaturen und den Anschlägen in Oslo her. Prophetisch warnt Moniquet: „Dieser Anschlag hätte in Brüssel stattfinden können oder in Wien, dieser Anschlag hätte überall in Europa stattfinden können“.

Auruf zur Wachsamkeit

Auch deutsche Sicherheitskräfte reagieren umgehend auf die Anschläge in Oslo. Innenminister Hans-Peter Friedrich ruft die Deutschen in der Passauer Neuen Presse (PNP) zu mehr Wachsamkeit auf und schließt sich damit einer Warnung der deutschen Polizeigewerkschaft (GdP) an. Deren Chef, Bernhard Witthaut, hatte gestern gesagt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass auch deutsche Großstädte in Gefahr seien.

Witthaut hält es für möglich, dass El Kaida den zehnten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA zum Anlass nimmt, um sich in die Aufmerksamkeit Europas „zurückzubomben“ und beschwört die Deutschen, dass man jetzt mehr denn je auf „Hinweise und Mithilfe der Bevölkerung“ angewiesen sei.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sieht sich in seiner Auffassung bestätigt, das die in Bayern und in Deutschland getroffenen Sicherheitsvorkehrungen nicht übertrieben sind und mahnt gegenüber der PNP zu einer geschärften Aufmerksamkeit gegenüber allen bekannten extremistischen Gruppierungen.

Deutsche Sicherheitsexperten werden von dem Blatt zitiert, dass sie vor allem die „stillen Beobachter unter den Islamisten“ fürchten. Nach Erkenntnissen der Behörden gibt es unter den Islamisten in Deutschland „versierte Beobachter“, die bestens über die Schwachstellen in der Sicherheitsarchitektur in der BRD informiert sind.

Der Täter: Christlich, konservativ, national

Noch am gestrigen Tag hat die norwegische Polizei auf der Insel Utøya den Mann festgenommen, der dort als Polizist verkleidet das Feuer auf die jugendlichen Teilnehmer eines sozialdemokratischen Jugendcamps eröffnet hat. Der 32-jährige Norweger erschoss dort mindestens 84 Menschen, nachdem er um 15.20 Uhr die Bombe im Regierungsviertel von Oslo zur Explosion gebracht hatte. Der Detonation und ihren Folgen waren mindestens sieben Menschen zum Opfer gefallen.

Angesichts der neuen Erkenntnisse beginnen die Medien nun allmählich damit, sich von ihrer gestern eröffneten Jagd auf islamistische Gewalttäter zu distanzieren. Der Verdächtige scheint aus rassistischen und islamfeindlichen Motiven heraus gehandelt zu haben. Nach Angaben der norwegischen Polizei lässt seine Internetseite eine christlich-fundamentalistische, rechtsextreme Haltung erkennen.

Journalisten, Sicherheitskräfte und Politiker müssen sich vor die Frage stellen, ob sie noch in der Lage sind das Wort „Bombe“ auszusprechen, ohne dabei „Islam“ zu denken.

Gestern konnte man erleben, wie Medienvertreter leichtsinnig und unkritisch Mutmaßungen über einen islamistischen Anschlag voneinander übernahmen und sich dabei auf die Statements selbsternannter Terrorismus-Experten beriefen. Politiker nutzten die Situation, um zu erhöhter Wachsamkeit und Mithilfe der Bevölkerung aufzurufen und ihre umstrittenen Strategien zur Terrorbekämpfung zu rechtfertigen.

Vorbildlich dagegen die Reaktion des norwegischen Regierungschefs Jens Stoltenberg, unmittelbar nach den Anschlägen: „Diese Anschläge werden unser Land verändern. Unsere Antwort  muss mehr Demokratie und Offenheit sein“.

Den übereifrigen „Terrorexperten“, Sicherheitsfanatikern und Politikern täte ein Blick in den Europol-Jahresbericht 2010 gut: Von den insgesamt 249 Terroranschlägen, die in der Europäischen Union im Jahr 2010 verübt wurden, verzeichnen lediglich drei Anschläge einen islamistischen Hintergrund.

Leider ändert dies nichts daran, dass vor allem in Deutschland  jede Gelegenheit genutzt wird, Muslime für alles Schlechte in der Welt verantwortlich zu machen und damit ebenso bewusst wie verantwortungslos Vorurteile in der Bevölkerung zu schüren. Bürger in einer ohnehin angespannten Situation zu mehr Wachsamkeit gegenüber potenziell Verdächtigen aufzufordern und gleichzeitig den Islam immer wieder als Wurzel allen Übels zu verleumden, führt zu einer Haltung, die erst den Nährboden für den furchtbaren Anschlag in Norwegen bildet.

9 Kommentare

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9 Antworten zu “Terror in Oslo: Im Zweifel war’s ein Islamist

  1. Helge Mannteuffel

    Danke für den wohltuend besonnenen Artikel.

  2. m.hoberg

    Und alle deutschen Medien nennen Anders Behring Breivik nun einen Rechtsextremisten und Nazi. Breivik selbst dürfte eher davon überrascht sein. Schließlich verehrte er den gegen die Nazis kämpfenden norwegischen Widerstandskämpfer Max Manus. Bei seinem Massaker an den Schülern auf der Insel Utoya stieß er immer wieder Freudenschreie aus, wenn er Menschen ermordete. Welche Auffassung der Massenmörder auch immer tatsächlich hat, eines ist sicher: Er ist schwer psychisch gestört.

  3. sehr guter artikel,

    würde mich freuen, wenn sie auch mal bei mir vorbeischauen würden.

    http://pakhtunkhwa911.wordpress.com/2011/07/23/blond-blauaugig-und-islamophob/

  4. Pingback: Alle Terroristen sind Muslime – außer den 99%, die keine sind (Bsp. Norwegen) « BlogIG – Migrationsblog der InitiativGruppe

  5. echo

    Bei Stefan Niggmeier wird dazu schon heftig debattiert:
    http://www.stefan-niggemeier.de/blog/feiges-journalistenpack/

  6. Pingback: Der Rechtspopulist als Terrorist: Anders Behring Breivik | Migration und Integration in Deutschland | MiGAZIN

  7. Pingback: Islamistischer Terror und christlich-fundamentalistischer Terror? | Akif Sahin

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